Wie wir wieder lernen, regelmässig zu fahren, statt ständig Gas zu geben oder zu bremsen

11 x 8.5 Window of Tolerance

Vielleicht erinnerst du dich an die letzte längere Autofahrt, in der du in den Stau geraten bist. Und wie anstrengend es sein kann, ständig zu bremsen, dann doch wieder ein Stück Gas zu geben, nur um wieder abzubremsen. Es braucht enorm viel Konzentration, im richtigen Moment zu bremsen, um dem Auto vor uns nicht mit voller Wucht in den Kofferraum zu fahren.

Gleichzeitig wird von uns erwartet, sofort Gas zu geben, wenn sich eine Lücke im Stau ergibt. Wir sind dem Rhythmus des Staus unterworfen und kommen kaum in einen regelmässigen Fahrmodus. Wenn wir hingegen auf der Autobahn in einen guten Fahr-Flow gekommen sind, bremsen und beschleunigen wir ganz automatisch, ohne gross nachzudenken. Wir können lange, weite Strecken hinter uns bringen, wenn wir auf ein Ziel zufahren. Und oft ziehen die Stunden geradezu vorbei, während wir im Flow fahren.

Im übertragenen Sinne sind wir Menschen dafür gemacht, unseren eigenen Rhythmus zu haben und im Flow sein. Wir reagieren innerhalb dieser Rhythmik auf die Herausforderungen des Lebens und sind anpassungsfähig. Aber wir sind dem Leben nicht einfach nur ausgeliefert und wechseln flexibel zwischen Gas-geben und Bremsen hin und her. 

Hauruck statt Flow

Viele Menschen fahren aber nicht mehr regelmässig durch ihr Leben. Sie pendeln ruckartig zwischen Spitzen hin und her, geben Gas, bis der Akku fast leer ist, nur um dann gezwungenermassen massiv auf die Bremse zu steigen oder vom eigenen Körper gebremst zu werden. Dieses Pendeln zwischen den Extremen entspricht auch ein wenig dem Zeitgeist, der uns beibringt, dass wir es durchziehen sollen, dass wir für Ziele kurzfristig hart arbeiten müssen und dann Pausen machen sollten, wenn wir die Arbeit erledigt haben.

Ich habe selbst jahrelang in diesem Modus gelebt und nicht gemerkt, dass es mich viel mehr Energie kostet, immer wieder an den Rande meiner Kräfte zu rasen, nur um sehnlichst auf die nächste Pause zu warten, in der ich völlig entkräftet am Boden lag.

Wir können uns ohne Nachzudenken an Herausforderungen anpassen

Unser autonomes Nervensystem ist Teil davon, dass wir als Menschen über eine sehr flexible Anpassungsfähigkeit verfügen, ohne zu viel darüber nachdenken zu müssen. Die Vagusbremse kann Energie freisetzen, wenn wir sie benötigen. Wenn wir eine gefühlte Bedrohung durch einen Stressoren erleben, kann der sympathische Teil des autonomen Nervensystems eine Defensivreaktion auslösen. Wenn wir uns erholen und verdauen, ist der parasympathische Anteil aktiv. Der dorsale Ast des Vagusnerves, der ebenfalls zum parasympathischen Teil gehört, ist aber auch dafür zuständig, wenn sich eine Situation so lebensgefährlich anfühlt, dass unser autonomes Nervensystem die Kontrolle übernimmt und uns unsichtbarer macht. Indem wir uns tot stellen, werden wir vermeintlich für eine Gefahr unsichtbar.

Die Anteile des autonomen Nervensystems werden oft separat betrachtet und in verschiedene autonome Zustände eingeteilt: Sicherheit, Kampf-Flucht oder Totstellen / Immobilisierung. In der «Realität» passieren diese Dinge natürlich fliessend und die verschiedenen Äste des Nervensystems bewegen sich in einem komplexen Zusammenspiel, das dafür sorgt, dass wir physisch unversehrt sind und soziale Verbindung erfahren.

Oder wie ich manchmal spasseshalber sage: «Unser autonomes Nervensystem möchte Futter (körperliche Sicherheit) und Liebe (soziale Verbindung = Sicherheit) und tut dafür fast alles.»

Unser Toleranzfenster, Unter- und Übererregung

In der Arbeit mit dem autonomen Nervensystem sprechen wir oft vom so genannten Toleranzfenster (Window of Tolerance). Befinden wir uns innerhalb dieses Fensters, passen wir uns Herausforderungen an und bewegen uns in Wellenbewegungen zwischen Leistung und Erholung hin und her. Wir sind in gefühlter Sicherheit verankert und können uns immer wieder in eine Machbarkeit und Handhabbarkeit des Lebens zurück regulieren.

Kippen wir aus unserem Toleranzfenster hinaus, können wir in eine sympathisch dominierte Übererregung hinein kippen, in der wir uns vor allem verteidigen oder vor eine gefühlte Gefahr zu flüchten versuchen. Oder wir geraten in eine Untererregung, die parasympathisch dominiert ist. Wir fühlen uns hilflos, ohnmächtig, erschöpft und ausgeliefert.

Es ist, wie beim Fahren: Wenn wir nur noch Gas geben, laufen wir Gefahr, in ein anderes Auto hinein zu fahren oder irgendwann mit leerem Tank dazustehen. Wenn wir nur noch Bremsen, kommen wir nicht mehr vom Fleck. Wenn wir den natürlichen Wechsel zwischen Gas und Bremse innerhalb unseres Toleranzfensters verlieren, sind wir nicht im Flow des Lebens. 

Resilienz, oder die Fähigkeit, das Toleranzfenster zu erweitern

Unser Toleranzfenster können wir erweitern und trainieren. Wir könnten hier auch über Resilienz sprechen, eine Fähigkeit, die uns eine gewisse Anpassungsfähigkeit gegenüber den Herausforderungen des Lebens ermöglicht.

Hier liegt übrigens auch das grösste Missverständnis bei der Arbeit mit dem autonomen Nervensystem: Es ist nicht unser Ziel, immer nur reguliert zu sein.

Sondern unsere Ressourcen, Fähigkeiten und unser Verständnis dafür zu trainieren, dass wir wieder uns aus einer neurozeptiv wahrgenommenen Unsicherheit wieder in eine gefühlte Sicherheit regulieren können – obwohl wir Herausforderungen, Verluste und schwierige Situationen erleben.

Sofort aufs Gas oder ständig auf der Bremse? Unsere Geschichte und Traumata prägen diesen Rhythmus.

Unsere autonomen Reaktionen sind von unserer Geschichte und von Erlebnissen (und damit auch von Traumata) geprägt, die für uns gefühlt oder real gefährlich waren. Wenn wir zum Beispiel als Kind langfristig mit einer impulsiven, unberechenbaren Person im Haushalt gelebt haben, kann es sein, dass wir eine Hypervigilanz entwickeln: Das Gefühl, ständig unter Strom zu stehen und immer auf der Hut bleiben zu müssen.

Unser Nervensystem hat auch die Fähigkeit, eine natürliche Defensiv-Reaktion zu unterdrücken, um uns zum Beispiel in einer lebenswichtigen Bindung mit unseren primären Bezugspersonen halten zu können: Statt uns zu wehren, werden wir ruhig. Vielleicht entschuldigen wir uns sogar ständig oder befürchten, alles falsch zu machen (hier sei auch das Fawning genannt). Dann reagieren wir auf Herausforderungen sehr schnell überfordert, bewegungslos und wie «erstarrt». Oft fühlen sich meine Coaching-Klient*innen, deren System so reagiert, wie unsichtbar, können kaum antworten, wenn sie etwas gefragt werden oder ihnen fehlen die Worte in einer Situation, obwohl sie später tausend richtige Antworten wüssten.

Als polyvagal-informierte Coachin bei heart space coaching ist es hier meine Aufgabe, diese Reaktion zu erkennen und meine Klient*innen dabei zu begleiten, wieder mehr gefühlte Sicherheit zu erleben.

Mehr Balance heisst nicht weniger Leistung!

Auch wenn unser autonomes Nervensystem mit stark erregenden oder stark hemmenden Reflexen reagiert, können wir mit der Zeit über professionelle Coaching-Gespräche, eine Anpassung unserer Lebensführung und somatische Körperarbeit lernen, wieder in eine Balance zu kommen und unser Toleranzfenster zu erweitern.

Und übrigens, falls du dir nun denkst: Ist ja alles nett und schön, aber in meiner Arbeit gibt es halt nur Vollgas und dann mal eine kurze Pause in den Ferien:

Du solltest wissen, dass sowohl Unter- als auch Übererregung extrem viel Ressourcen auffressen. In einer sympathisch dominierten Erregung sind wir oft verspannt, gereizt und weniger kreativ. Wir sehen gute Lösungen nicht und sind kurzsichtig, weil wir nur einen Schritt weiter statt auf langer Sicht denken. Wir werden auf Dauer weniger leistungsfähig, auch wenn uns Stress als guter Zustand für Leistung erscheint.

In einer Balance zu schwingen bedeutet nicht, dass wir weniger leisten können. Aber dass wir unsere Energie für lange Strecken einteilen, anstatt immer nur zu sprinten. 

Die Inhalte dieses Textes beruhen auf meiner Arbeit und meinen Erfahrungen als polyvagal-informierte Coachin im heart space St.Gallen. In diesen Text und seine Thesen fliessen meine entsprechenden Ausbildungen in Traumaintegration und der Polyvagaltheorie. Ich bestehe nicht auf abschliessende Vollständigkeit und habe einige (anatomische) Details stark vereinfacht. Ich ermutige Leser*innen, sich eine eigene Meinung zu machen und weitere relevante Quellen beizuziehen. Das Bild zum Beitrag wurde bezahlt und ist zur Verfügung gestellt.

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