Vielleicht «kannst» du nicht entspannen

Gisèle + Heartspace

«Du solltest es wirklich einmal etwas ruhiger angehen lassen» ist ein gut gemeinter Ratschlag. Aber es gibt Menschen, deren Körper, Geist und Seele sich zwar nach Entspannung verzehren. Aber sobald sie sich irgendwo zur Meditation hinsetzen, auf die Couch legen oder spazieren gehen, fangen die Gedanken an zu rasen und im Bauch beginnt es zu kribbeln.
Ich habe selbst jahrelang gehört, ich sollte mich mehr entspannen. Und irgendwann habe ich angefangen, das Konzept von Entspannung zu hinterfragen, weil es mir einfach nicht gelungen ist, es «ruhig angehen» zu lassen. Immer waren tausend To Dos in meinem Kopf, hunderte von Ideen und das Gefühl, niemals genug erledigt zu haben.

Was, wenn Entspannung nicht sicher ist?

Warum sprechen wir umgangssprachlich überhaupt von Anspannung und Entspannung? Weil durch unsere Nervenfasern elektrische Impulse strömen. Konstante Anspannung bedeutet also ein hohes Mass an kleinen, elektrischen Impulsen, die durch unseren Körper jagen. Anspannung ist eigentlich ein Zustand, der dafür gedacht ist, in Aktion zu treten. Deshalb wird unser Muskeltonus angespannt, unsere Aufmerksamkeit wird geschärft und wir haben Energie zur Verfügung, um etwas umzusetzen. In der polyvagalen Betrachtungsweise ist Stress ein Zustand, der vom autonomen Nervensystem unbewusst ausgelöst wird, um uns vor einer Gefahrensituation zu schützen. Dabei ist die so mobilisierte Energie hilfreich dabei, dass wir Dinge erledigen können und uns aktiv fühlen. Wenn wir aber dauerhaft gestresst sind, bedeutet das in der polyvagalen Arbeit, dass wir nicht mehr zurück in den Zustand von Sicherheit und Verbundenheit finden und dysreguliert bleiben. Es ist sprichwörtlich nicht sicher, uns zu ent-spannen. Wenn wir langfristig in dieser Stressreaktion hängen bleiben, ohne zurück in den so genannten ventral-vagalen Zustand von Sicherheit und Verbundenheit zurück zu finden, folgt auf die Mobilisierung irgendwann der Shutdown: Unser System möchte Energie sparen und stellt sich quasi tot, was der ältesten Reaktionsschlaufe unseres autonomen Nervensystems entspricht.

Woher kommt diese Un-Sicherheit?

Ein häufiger Grund dafür, dass wir nicht entspannen können, liegt darin, dass unser autonomes Nervensystem verknüpft hat, dass Entspannung nicht sicher ist. In der Arbeit mit Menschen habe ich verschiedene Gründe für diese Verknüpfung kennen gelernt. Zum Beispiel ein Elternhaus, in dem selbst ein dauerhaft dysreguliertes Elternteil zu Hause war, das konstant unter Stress stand. Kontrolle kann ein Weg für solche Eltern sein, sich vermeintliche Sicherheit zu schaffen. Übermässiges Ermahnen, starre Vorstellungen, konstante Aktivitäten und ständiges Auffordern, Dinge zu erledigen können eine Folge davon sein, dass sich ein Elternteil selbst nicht sicher fühlt und versucht, alle Fäden in der Hand zu halten. Kinder, die in einem solchen Umfeld aufwachsen, lernen schon früh, dass es nicht «sicher» ist, sich zu entspannen. Ich arbeite oft mit Menschen, die ein Elternteil als sehr starr in seinen Ansichten und Vorstellungen erlebt haben und mit einem immensen inneren Stress zu mir kommen, der sich in aufschäumender Wut, fehlender Konzentration, Aktionismus oder Zappeln zeigt. Das ist nur ein Beispiel davon, was zu einer anhaltenden Un-Sicherheit führen kann.

Schuldgefühle abbauen, Entspannung lernen

Innere Getriebenheit ist keine Entscheidung. In der gemeinsamen Arbeit bauen wir als erstes die Schuldgefühle ab, die viele Menschen mitbringen, weil sie nicht entspannen können oder oft tausend Dinge anfangen, aber sie nicht fertig bekommen. Menschen, die nicht zur Ruhe kommen sind in keiner Weise schuldig oder machen etwas falsch. Aber sie dürfen anerkennen, dass ihre innere Getriebenheit ein Schutzmechanismus ist, den wir langsam abbauen dürfen. Es ist nicht einfach nur eine Entscheidung, weniger gestresst zu sein. Dafür benötigen wir die richtigen Tools und einen bewertungsfreien Raum, um zu lernen, wie wir unserem System Zeichen für Sicherheit und Verbundenheit signalisieren können. Wenn wir uns nämlich versuchen, zur Entspannung zu drängen obwohl unser System gerade in einer Schutzreaktion feststeckt, stressen wir uns selbst noch mehr und fühlen uns zusätzlich unzulänglich.

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