Stress ist heutzutage ja normal, ja sogar gewünscht, schliesslich sagt er uns etwas darüber aus, ob wir viel beschäftigt und damit erfolgreich sind. Im polyvagalen Verständnis ist «Stress» aber ein Hinweis darauf, dass es uns nicht gelungen ist, sichere Verbindungen herzustellen.
Stress = Zeichen dafür, dass wir die gesuchte Verbindung nicht finden können
Provokant ausgedrückt, ist der dauerhafte Stress, der an vielen Orten in unserer Gesellschaft zum Normalzustand geworden ist, ein Zeichen dafür, wie viele von uns in einem Dauerkampf darum sind, wieder in eine sichere Verbindung zu treten. Und wenn es uns trotz aller Mobilisierungsbemühungen des autonomen Nervensystems (Stress) anhaltend nicht gelingt, in unseren Beziehungen, an unserem Arbeitsplatz oder in unseren Freundschaften in einen Zustand der Sicherheit und Verbundenheit zu finden, folgt irgendwann die Erschöpfung. Für unser System bedeutet massive Erschöpfung eine Shutdown, den Wechsel in eine Totstellreflex. Wir haben so lange in einer Situation ausgehalten, die für unser System immer und immer wieder Grund war, eine Stressreaktion zu mobilisieren, dass wir in den Energiesparmodus gehen, um weiterhin in dieser Situation aushalten zu können.
Sichere Verbindungen sind auch Arbeitsbeziehungen und Freund:innenschaften
Da leben wir im Zeitalter der sozialen Medien, der globalisierten Welt, der «Alles ist möglich»-Haltung, und rein biologisch betrachtet, können wir überall Menschen sehen, die mit aller Energie darum kämpfen, in eine Zustand der sicheren Verbindung zurück zu finden. Sichere Verbindungen sind nicht nur Beziehungen, es sind auch Arbeitsverhältnisse und Freund:innenschaften, in denen wir gesehen werden, genährt werden, in denen der Ausgleich stimmt und in denen wir uns nicht konstant in Gefahr wähnen. Für das autonome Nervensystem, das mittels der Neurozeption konstant scannt, ob wir gerade sicher sind, sind Signale der Gefahr ganz feine Hinweise aus der Umwelt, aus unserem Körper oder aus den Beziehungen, die wir erleben. Nimmt unser System ein Signal für Gefahr wahr, initiiert es automatisch eine Reaktion, die uns wieder in die Sicherheit zurück bringen soll. Was unser System dabei als Gefahr wahrnimmt, ist einerseits biologisch festgelegt (akustische Signale) aber auch Erfahrungsbasiert (was haben wir erlebt).
Sichere Beziehungen sind ein biologisch festgelegtes Bedürfnis
Nach sicheren sozialen Bindungen zu suchen ist biologisch in uns verankert. Ab dem Zeitpunkt unserer Geburt sind wir darauf angewiesen, gesehen und genährt zu werden. Als Baby würden wir andernfalls sterben. Aber auch als erwachsene Menschen sind wir darauf angewiesen, Beziehungen zu führen (und dazu gehören auch Arbeitsverhältnisse und Freund:innenschaften), die reziprok sind, also in denen wir Resonanz erleben und in denen das Geben und Nehmen sich in gesunder Weise abwechselt.
Merkwürdige Verhaltensweisen sollen eigentlich die Verbindung ermöglichen
Um solche Beziehungen bemühen wir uns konstant. Gelingt es uns nicht, zu anderen in Kontakt zu treten und eine reziproke, sichere Verbindung zu erleben, löst unser autonomes Nervensystem eine Mobilisierung aus. Wir versuchen, mit scheinbar merkwürdigen Verhaltensweisen, wieder in eine Verbindung zu treten. Dazu gehört auch Streit, konstantes Kritisieren, ständige Gedanken an Reisen und andere Partner:innen, Jobs oder Freund:innen. Mit so genannten «Momenten der Unruhe» versuchen wir wieder in eine Ruhe zu kommen, was ein biologischer Zustand von Sicherheit und Verbundenheit bedeutet.
Erschöpfung ist ein Zeichen der Frustration, dass uns keine Verbindung gelingt
Gelingt es uns trotz dieser mitunter merkwürdigen Verhaltensweisen nicht, mit unseren Partner:innen, Freund:innen, Arbeitgeber:innen oder Teams wieder in eine nährende, sichere Beziehung zu kommen, werden wir immer müder, erschöpfter, frustrierter. Bis unser autonomes Nervensystem, das sich ja andauernd in Gefahr wähnt, irgendwann zum letzten und radikalsten Schritt übergeht: Der totalen Erschöpfung. Und das ist eigentlich ziemlich schlau, denn wir müssen die Beziehung, in der wir verharren, den Job, den wir nicht wechseln, die Freund:innenschaft, die uns nicht ausreichend nährt, ja irgendwie weiterhin aushalten, und dabei irgendwie überleben. Und damit wir überleben, schaltet unser System in einen Energiesparmodus, den Shutdown, die Erschöpfung.
Ich arbeite oft mit Menschen, die mit einer riesigen Erschöpfung im Rucksack zu mir kommen. Und der erste Schritt dafür, wieder an Kraft und Energie zu gewinnen, ist es, die Frustration unseres Systems zu erkennen, weil es keine Möglichkeit zu einer sicheren, nährenden Verbindung gefunden hat. Ebenso wichtig ist es die mitunter merkwürdigen, teilweise für meine Klient:innen rational kaum nachvollziehbaren Verhaltensweisen aufzuspüren, die ein Zeichen des Versuchs sind, eine gesunde Verbindung herzustellen.