Für eine Veränderung darf auch der Körper verstehen, was der Kopf schon weiss

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«Ich wüsste es ja eigentlich, aber…»: Oft haben wir etwas auf geistiger Ebene verstanden. Und trotzdem reagieren wir immer wieder gleich, tappen in die gleichen Beziehungsmuster oder fühlen uns blockiert. Die Polyvagal-Theorie gibt uns ein Modell in die Hand, das zeigt, wie stark unbewusste körperliche Vorgänge unser Verhalten prägen und wie wichtig es ist, auch auf physischer Ebene daran zu arbeiten, etwas zu verstehen. Im polyvagal-informierten Coaching verbinden wir deshalb das mentale Verständnis mit Atemübungen, Bewegung, sensorischen Übungen und Vorstellungsübungen.

Ein Modell für neue Perspektiven

Die Polyvagal-Theorie ist ein Modell, mit dem wir verschiedene Emotionen, Reaktionsmuster und Verhaltensweisen mit unbewussten Reaktionen des autonomen Nervensystems in Zusammenhang bringen können. Dabei teilt das polyvagale Modell diese Reaktionen in drei Hauptzustände ein, in dem sich das autonome Nervensystem befinden kann. Diese drei Zustände beeinflussen, wie wir uns fühlen: Wir fühlen und sicher und verbunden, wir fühlen uns gestresst und unsicher oder wir fühlen uns hoffnungslos und verloren.

Diese drei Zustände werden in der polyvagalen Sprache als ventral-vagale Sicherheit, sympathische Aktivierung oder dorsal-vagale Lähmung verstanden. Jeder Zustand ist mit bestimmten Emotionen und Gedanken verknüpft und wirkt sich auf das körperliche und geistige Empfinden aus.

Revolutionär an der Polyvagal-Theorie ist für mich, dass sie biologisch aufzeigt, dass nicht alles, was wir erleben, fühlen oder entscheiden nur vom Gehirn aus «top down»gesteuert wird, sondern dass viele Prozesse «bottom-up» passieren und unser Gehirn Informationen aus unserem Körper erhält, die wiederum Gedanken und Prozesse auslösen.

Das heisst aber auch, dass wir, obwohl wir etwas mental verstehen, dieses Verständnis nicht unbedingt im Körper und damit in unserem autonomen Nervensystem angekommen ist.

Kleiner Theorie-Ausflug zur Poly-Vagal-Theorie

Dr. Stephen Porges, Begründer der Polyvagal-Theorie, hat im Rahmen seiner Untersuchungen der Herzfrequenzmuster bei Neugeborenen festgestellt, dass der Vagus-Nerv, der wichtig für die Regulation unserer Atmung und unserer Verdauung ist, in zwei Bahnen verläuft, die beide mit dem Herzen verbunden sind. Eine Bahn existiert nur bei Säugetieren und ist mit einer speziellen Schicht umgeben, was Signale auf dieser Nervenbahn schneller macht. Diese schnellere Bahn beeinflusst unseren Herzrhythmus und ist auch mit den gestreiften Gesichtsnerven verbunden.
Das spannende für unsere Arbeit im Coaching ist aber vor allem, dass diese beiden Vagusbahnen sich zu unterschiedlichen Zeiten in der Evolution entwickelt haben und in unterschiedliche Schaltkreise involviert sind: Der ältere, dorsale Vagusteil hat sich bereits bei Wirbeltieren entwickelt und reagiert, wenn eine lebensbedrohlichen Situation aufgetreten ist. Als Reaktion hat das Nervensystem eine Art Totstellreflex initiiert, der in Zusammenhang mit Dissoziation und Ohnmacht steht. Die zweite evolutionäre Entwicklung fand mit dem Herausbilden des sympathischen Teils unseres Nervensystems statt, der in Kampf- und Fluchtsituationen unseren Herzschlag erhöht und uns anspannt, damit wir schnell reagieren können.

Die dritte Entwicklungsphase haben nur Säugetiere erlebt: Es hat sich eine zweite Vagusnerv-Bahn entwickelt, die ebenfalls mit dem Herzen verbunden ist, aber auch die Gesichtsmuskeln beeinflusst. Stephen Porges bezeichnet diese ventrale Vagusbahn, die Herz und Gesicht verbindet, als besonders wichtig für uns Säugetiere, weil sie uns erlaubt, über unsere Mimik auszudrücken, wie sicher und entspannt wir uns fühlen. Der ventrale Teil des Vagusnervs ist mit dem Ausdruck und Erleben von Emotionen verbunden. Wenn unsere Mimik aktiv, einladend und fröhlich ist, fühlen wir uns sicher und möchten mit anderen Menschen in Verbindung treten. Der gleiche Nerv, der dran beteiligt ist, dass wir Offenheit ausstrahlen, wirkt sich auf mitunter auf die Regulierung unseres Herzschlags aus. Kurz gesagt: Wenn wir uns sicher und verbunden fühlen, ist unser Herzschlag optimal, wir fühlen und ruhig und unser Stoffwechsel kann ideal funktionieren.

Wenn also Sportler:innen in Interviews erzählen, dass sie mit einem Lächeln leistungsfähiger sind, dürfen wir gekonnt verstehen, dass ein Lächeln sich über den ventralen Vaguskomplex auf unsern Herzrhythmus auswirken kann. Hier der spannende Artikel zum Nachlesen über Sport und Lächeln.

Und was hat das ganze nun mit Coaching zu tun?

Ein für unsere gemeinsame Arbeit besonders wichtiger Teil der Polyvagal-Theorie ist die Neurozeption, eine Art unbewusstes Bewertungssystem, das unseren Körper, die Umwelt und andere Menschen scannt und basierend auf verschiedenen Impulsen und früheren Erfahrungen beurteilt, ob wir sicher sind. Diese Beurteilung führt dazu, dass unser Nervensystem autonom in die drei Zustände «sicher, unsicher, Lebensgefahr» wechselt. Diese Vorgänge erfolgen stark erfahrungsbasiert und unbewusst, beeinflussen aber, wie wir die Welt erleben, was für eine Stimmung wir haben und was wir denken.

Zum einen dürfen wir in der gemeinsamen Coaching-Arbeit verstehen, wo unser Nervensystem sich unsicher fühlt, obwohl es eigentlich sicher ist. Zum anderen dürfen wir unseren Körper dabei unterstützen, sich in solchen Situationen sicher zu fühlen und zu entspannen.

Die Polyvagal-Theorie betont, wie stark die bidirektionale Kommunikation zwischen unserem Nervensystem und unserem Gehirn ist: Die Kommunikation läuft auf beide Seiten. Wir können also mit unseren Gedanken unseren körperlichen Zustand beeinflussen; noch viel stärker beeinflusst das unbewusste Erleben unseres Nervensystems aber das, was wir denken und wie wir uns verhalten. Deshalb sind körperliche Übungen, Bewegung und Atem-Techniken wirkungsvolle Begleit-Tools, um auf ganzer Ebene etwas zu verstehen und mehr innere Sicherheit und Gelassenheit zu empfinden.

Körper und Geist zu mehr Sicherheit begleiten

Wenn wir mental verstehen, was uns blockiert und physisch unseren Körper dabei unterstützen, sich wieder sicherer zu fühlen, können wir uns entspannter fühlen und offener auf andere Menschen zugehen. Hinter vielen Blockaden und hartnäckigen Verhaltensmustern stecken gefühlte Unsicherheiten. Das mag trivial klingen, kann auf physischer Ebene aber dazu führen, dass wir mit Verdauungsstörungen, Verspannungen, Entzündungen, Kurzatmigkeit oder Herzrhythmus-Themen zu tun haben. Auf emotionaler Ebene kann sich eine gefühlte, unbewusste Unsicherheit über Ängste, Wutattacken, Misstrauen, Hoffnungslosigkeit und mit Blockaden und Erschöpfung zeigen.
Im gemeinsamen Coaching begleiten wir Geist und Körper dabei, sich sicherer zu fühlen und damit auch entspannter, leistungsfähiger und gelassener zu sein. Das tun wir über Gespräche, körperliche, sensorische, Atem- und Imaginationsübungen.

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