Warum «musst» du etwas tun?

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«Ich muss einfach!» – viele Klient:innen, die vor mir sitzen, fühlen sich getrieben, unter Druck und tun Dinge, die sie mental hinterfragen. An dieser Stelle beginnt meine Arbeit und die Suche nach dem «warum».

Inhalte dieses Beitrags:
  • Die Polyvagal-Theorie erklärt uns unser Verhalten aus neurowissenschaftlicher Sicht
  • Wenn wir nur noch müssen, treffen wir schlechte Entscheidungen und können unsere Pläne schlecht umsetzen
  • Reguliertes können, sympathisches müssen, dorsal-vagales nicht können
  • Verständnis für die reflexartige Reaktion des Nervensystems
  • Der «Reason Why» aus polyvagal-informierter Perspektive
Die Polyvagal-Theorie erklärt uns unser Verhalten aus neurowissenschaftlicher Sicht

Im Marketing wird oft vom «Reason Why» gesprochen. Auch Sportlerin Tia Toomey (die mit sieben Titeln öfter als jeder andere Mensch die CrossFit Games gewonnen hat) schreibt in ihrem Buch «The Heart is the Strongest Muscle» darüber, dass das «warum» ein wichtiger Faktor ist, um in etwas nicht nur gut zu sein, sondern unaufhaltbar.

Die Polyvagal-Theorie dreht sich immer darum, warum wir tun, was wir tun. Einer meiner Dozenten, Dr. Les Aria, hat in einem Seminar gesagt, die Poyvagal-Theorie nimmt uns viel Scham, weil sie uns unser Verhalten erklärt. Und zwar nicht nur die positiven Dinge, sondern auch die Verhaltensweisen, die uns stören und unangenehm sind.

Wenn wir nur noch müssen, treffen wir schlechte Entscheidungen und können unsere Pläne schlecht umsetzen

Wie oft sagen wir «ich muss das tun!», ohne überhaupt genau zu wissen, warum wir etwas tun müssen oder wer das von uns verlangt.

Und eines kann ich dir aus meiner Erfahrung der letzten Jahre sagen: Fast immer, wenn das Wort «muss» in einem Satz vorkommt, befindet sich die Person, die diesen Satz gesagt hat, im Überlebensmodus und rennt ziemlich kopflos durch ihr Leben.

Denn im Überlebensmodus haben wir keinen Zugriff auf den Bereich in unserem Gehirn, der uns erlaubt, gute Entscheidungen zu treffen, Impulse zu steuern und unsere Handlungen und ihre Konsequenzen abzuschätzen.

Das bedeutet auch, dass wir Dinge tun, die wir eigentlich nicht mehr tun wollen oder Dinge nicht umsetzen, die wir eigentlich möchten:

Wenn du also im Überlebenmodus versuchst, eine Gewohnheit zu verändern, wird das ziemlich schwierig.

Reguliertes können, sympathisches müssen, dorsal-vagales nicht können

Die polyvagal-informierten Coaching-Arbeit beginnt damit, dass wir die vier wichtigsten autonomen Zustände kennen lernen. Unser autonomes Nervensystem reagiert reflexartig und weitestgehend unbewusst auf Reize. Fühlt sich unser vegetatives Nervensystem bedroht, zieht es ein Reaktionsmuster aus dem Regal, das uns schützen soll. Wir spüren, dass etwas in uns vorgeht, aber sind uns im Alltag selten bewusst, warum.

Wenn wir unser Verhalten verändern möchten, dürfen wir zuerst unsere reflexartigen Reaktionen kennen lernen. Dazu gehört, dass wir unbewusste, so genannte neurozeptive Vorgänge in unser Bewusstsein und damit unsere Perzeption holen. Das gelingt uns besonders gut, wenn wir erforschen, mit welchen Worten, Gefühlen und Handlungen unsere autonomen Zustände verknüpft sind.

Ich habe als Orientierungshilfe folgende Sätze erarbeitet, die mit vier autonomen Zuständen verknüpft sind: 

«Ich kann» – Wir sehen Chancen, Möglichkeiten und erkennen unseren Handlungsraum. Wir sind in einem regulierten Zustand, grün auf unserer Ampel und der ventral-vagale Vagusnerv-Ast hat das Sagen.

«Ich muss» – Wir fühlen uns getrieben, sind unter Druck, sehen wenig Handlungsspielraum und sind auf Dinge fokussiert, die wir tun müssen. Wir sind gereizt, vermeiden gewisse Fragen und können selten nachhaltig erklären, warum wir etwas tun müssen. Wir sind in einem Zustand der Mobilisierung, gelb auf der autonomen Ampel. Der Sympathikus hat übernommen.

«Ich muss, aber kann nicht» – Unsere Gedanken rasen und drehen sich um etwas, was wir tun müssen. Wir fühlen uns unter Druck, aber schaffen es nicht, uns zu bewegen. Wir sind wie eingefroren, aber kommen auch nicht zur Ruhe. Wir sind gelb-rot auf unserer Ampel. Wir sind sympathisch mobilisiert, aber auch dorsal-vagal gelähmt. Das ist unser Freeze-Zustand. Hier wird oft auch vom «Functional Freeze» gesprochen: Tagsüber funktionieren wir und arbeiten wie wild, abends liegen wir herum und schaffen es kaum, uns zu etwas aufzuraffen.

«Ich kann nicht (mehr)» – Wir verlieren das Gefühl, etwas tun zu können. Wir schaffen es kaum, einen Schritt zu gehen und sind wie gelähmt. Selbst vermeintlich einfachste Aufgaben scheinen uns unmöglich. Wir sind rot auf der autonomen Ampel und stecken in einer dorsal-vagalen Lähmung, auch Shutdown oder Totstell-Reflex genannt.

Verständnis für die reflexartige Reaktion des Nervensystems

Wenn wir autonome Vorgänge in unser Bewusstsein holen, spüren wir, dass wir auf Reize, Situationen und Menschen reflexartig reagieren. In einem nächsten Schritt erarbeiten wir ein Verständnis dafür, warum unser autonomes Nervensystem auf diese Dinge mit einer Mobilisierung oder Lähmung reagiert:

Einfach ausgedrückt bedeutet das, das wir eine (vermeintliche) Bedrohung wahrnehmen. Eine Bedrohung bedeutet, dass unser vegetatives Nervensystem um unsere physische Sicherheit oder soziale Zugehörigkeit besorgt ist.

Der «Reason Why» aus polyvagal-informierter Perspektive

Indem uns die Polyvagal-Theorie als neurowissenschaftliches Framework einen Rahmen gibt, um unsere autonomen Reaktionen einordnen und besser verstehen zu können, wird uns immer klarer, warum wir Dinge tun. Und damit auch, warum wir Dinge nicht tun können.

Dieses Verständnis ist die Basis dafür, Veränderungen umzusetzen.

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Ich habe mich auf die alltägliche Anwendung der Polyvagal-Theorie spezialisiert. Ich arbeite im 1:1- und 1:2-Setting mit Privatpersonen, Paaren & Familien und berate Unternehmen.

Schreib mir gern, wenn du Fragen hast.

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