Zusammenfassung:
Ob wir schwierige Momente als lösbare Herausforderung oder Belastung erleben, hängt massgeblich davon ab, ob unser System nur Energie mobilisiert oder in eine Verteidigungsreaktion rutscht. Wenn wir in herausfordernden Situationen die Verbindung zu uns selbst oder zu anderen Menschen aufrechterhalten und uns sicher und selbst bestimmt fühlen können, fühlen wir uns zwar gefordert, aber seltener gestresst. Wenn wir uns aber unter Druck gesetzt, allein gelassen, getrieben, unsicher oder überfordert fühlen, sind das Anzeichen dafür, dass unser Kampf- und Flucht-Reflex aktiv geworden ist und wir in einer Defensivreaktion des vegetativen Nervensystems stecken. Traumata und ob wir einen eher sicheren oder unsicheren Bindungsstil entwickelt haben, beeinflussen, ob wir in eine defensive Verteidigungsreaktion kippen oder lösungsorientiert, gelassen und selbstsicher eine Herausforderung angehen.
Ausführliche Version:
Stress ist ein Dauerzustand unserer Zeit. Wer viel Stress aushalten kann, gilts als belastungsfähig. Menschen, die sich schnell überfordert fühlen, bekommen oft das Gefühl vermittelt, sie müssten weniger empfindlich sein und mehr aushalten. Dabei ist es mehr eine Sache unserer vergangenen Erfahrungen, ob wir eine schwierige Situation als stressig und belastend empfinden oder der Herausforderung positiv und mit erhöhter Konzentration und Ausdauer begegnen können.
Stress ist ein Gefühl, das unbewusste Prozesse bewusst macht
Stress ist ein Gefühl, mit dem uns eine ganze Reihe an unbewusster Prozesse bewusst wird. In eine Stressreaktion ist immer der sympathische Teil unseres vegetativen Nervensystems verwickelt. Dieser Teil des Nervensystems wurde in der Vergangenheit als Gegenspieler des parasympathischen Teil des Nervensystems verstanden, der für Ruhe und Erholung zuständig ist. In der polyvagal-informierten Coaching-Arbeit verstehen wir eine sympathische Reaktion des autonomen Nervensystems als Kampf- oder Fluchtreflex, der ausgelöst wird, wenn wir uns einer Gefahr oder Unsicherheit gegenübersehen. Ob wir eine Situation als gefährlich oder unsicher erleben hat nicht nur damit zu tun, was für Erfahrungen wir bisher im Leben gemacht haben, sondern auch damit, ob wir gerade eine positive, nährende und verlässliche Verbindung zu uns selbst oder einem anderen Menschen erleben können oder uns im Stich gelassen, unter Druck gesetzt, betrogen, verletzt oder gedrängt fühlen.
Energieschub dank sympathischer Mobilisierung
Wenn wir mehr Energie, Kraft, Konzentration oder Leistungsfähigkeit benötigen, kann unser Körper dank des sympathischen Nervensystems diverse Prozesse auslösen, die uns kurzzeitig leistungsfähiger machen sollen. Unser Herz schlägt schneller, es wird mehr Blut durch den Körper gepumpt, die Muskeln sind etwas angespannt und wir sind aufmerksamer. Dieser Zustand kann uns positiv fördern und wir können Aufgaben konzentriert angehen.
Für die Bereitstellung dieser zusätzlichen Energie ist die Vagusbremse zuständig. Sie wird von Sanders & Thompson (Die Polyvagal-Theorie und die Entwicklung des Kindes) als Mechanismus beschrieben, der einer Autobremse ähnelt. Je mehr wir sie loslassen, desto weniger wird das Auto gebremst. Die Vagusbremse kann sympathische Energie freisetzen, ohne, dass wir in eine Kampf- oder Flucht-Reaktion wechseln. Erst, wenn die Vagusbremse vollständig gelöst ist, werden zusätzlich viele Stresshormone ausgelöst, unsere Stimmung verändert sich, wir werden vielleicht wütend, wollen eine Situation vermeiden, sind genervt, angespannt oder gereizt. Wir sind in eine Verteidigungsreaktion gekippt und empfinden treibenden, drückenden, einengenden Stress. Uns sitzt eine Gefahr im Nacken, die wir versuchen, zu neutralisieren. Die vollständige Lösung der Vagusbremse ist keine bewusste Entscheidung, sondern eine autonome Reaktion auf eine Situation.
Kampf- und Flucht sind nicht als Dauerzustand gedacht
Eine defensive Stressreaktion, die von einer vollständig gelösten Vagusbremse beeinflusst wurde, sollte möglichst schnell wieder abflachen. Aber leider leben mittlerweile viele Menschen dauerhaft in dieser Kampf- und Flucht-Reaktion und finden keinen Weg zurück in eine sichere Entspannung.
Wann wird nun also eine positive Mobilisierung zu belastendem Stress? Jede Mobilisierung hat auf biologischer Ebene Sicherheit zum Ziel: Wir sollen überleben und das taten wir in der Vergangenheit am erfolgreichsten in Gruppen. Menschliche Kinder werden mit dem Bedürfnis nach Verbundenheit geboren, weil sie ohne eine Bezugsperson, die sie nährt und pflegt, nicht überleben würden. In meinem Verständnis ist eine gut trainierte Vagusbremse ein flexibler Prozess, der uns eigentlich kurzfristig Energie zur Verfügung stellen und dann wieder eine normaler Energieversorgung sicherstellen möchte. Löst sich unsere Vagusbremse komplett, haben wir oft keine sichere Verbindung und Unterstützung mehr.
Die Vagusbremse kann flexibler oder weniger flexibel sein
Die Vagusbremse ist nicht bei jedem Menschen gleich flexibel: Manchmal löst sie sich zu schnell und bleibt zu lange gelöst. Das wird davon beeinflusst, ob ein Mensch Traumata erlebt hat oder Mühe damit, eine sichere Verbindung zu erleben. Eine gut trainierte Vagusbremse, die immer wieder anzieht und flexibel auf Druck und Belastungen reagieren kann, macht uns resilienter. Ein wichtiger Faktor dabei ist das Gefühl von sozialer Verbundenheit, das für unser Nervensystem als Sicherheit wirkt und uns damit auch in schwierigen Situationen vor einer defensiven Kampf- und Fluchtreaktion schützt.
Indem wir trainieren, in herausfordernden Situationen Verbindung zu uns selbst oder zu anderen zu erleben und unserem Nervensystem aktiv dabei helfen, sich in ein Gefühl der Sicherheit zurück zu regulieren, können wir unsere Vagusbremse flexibler machen und werden resilienter und ja, auch stress-resistenter.
Verbindung ist wichtig!
Wenn wir uns in einer herausfordernden Situation Unterstützung holen, von unseren Mitarbeitenden oder Führungspersonen ermutigt, geschätzt und gelobt werden, wenn wir trotz tausender To Dos eine gute Verbindung zu unseren Partner:innen aufrechterhalten können, empfinden wir eine Situation weniger als belastend und bleiben lösungsorientiert und positiver.
Wie wir mit Herausforderungen umgehen, hängt also stark davon ab, wie flexibel unsere Vagusbremse ist, wie gut wir in Verbundenheit bleiben, unser Nervensystem aktiv regulieren und uns wieder ein Gefühl der Sicherheit schaffen können.
Quellen die teilweise zitiert wurden: Deb Dana, Polyvagal-Theorie in der Therapie; Stephen Porges, Heilen mit der Polyvagal-Theorie; Marilyn R. Sanders & George S. Thompson, Die Polyvagal-Theorie und die Entwicklung des Kindes