Und, welche Verletzung hat dich dazu gebracht, Coachin zu werden?

01GL(19of39)

Es gibt ein oft zitiertes Klischee über Psychotherapeut*innen: «Die haben doch alle selbst ein Problem.» Kürzlich wurde mir scherzhaft in einem Gespräch dieses Klischee in Erinnerung gerufen und ich wurde gefragt, was denn mein Trauma wäre, das mich zu meiner Arbeit als Coachin inspiriert hat.

Ich mag es, wenn Dinge aufgrund ihrer Faktenlage beurteilt werden. Ich bin mir nicht sicher, ob die Zahl der Menschen, die Psychologie studieren und die selbst «ein Thema» haben, eine grosse Übereinstimmung aufweist. Wobei, eigentlich gibt es in jedem menschlichen Leben Erlebnisse, die Spuren hinterlassen haben. Manche Menschen kommen damit gut zurecht, andere stehen irgendwann vor der Notwendigkeit, diese Spuren und Erlebnisse genauer betrachten zu müssen, weil sie zum «Thema» oder eben auch Problem geworden sind.

Es gehört zu meinem Beruf dazu, mich mit mir selbst vertieft auseinander zu setzen

Ich persönlich erwarte von mir selbst, aber auch von Menschen, mit denen ich zusammen arbeite (ob es nun Psycholog*innen, Hypnosetherapeut*innen oder Coach*innen sind), dass sie sich ihrer selbst und damit auch ihrer Stolpersteine, Erlebnisse, Spuren, Themen, ihrer Geschichte und ihrer Eigenheiten bewusst sind. Ich bin davon überzeugt, sich selbst zu kennen ist die Basis für viele Dinge: Gesunde Grenzen, Ziele erreichen zu können, Fehler eingestehen zu können, aber auch demütig, offen und respektvoll anderen gegenüber zu sein.

Je länger ich als Coach*in arbeite, desto tiefer tauche ich auch in mein eigenes Erleben, Handeln und Sein ein. Und viele Dinge, die für mich früher absolut stimmig waren, verstehe ich nun als Art und Weise, wie ich vielleicht nicht mehr handeln würde. Obwohl ich schon viele Jahre in verschiedenen Therapieformen meine eigenen Erlebnisse und deren Spuren aufgearbeitet habe, gibt es Traumaspuren, die ich erst jetzt langsam erkennen kann. Entweder, weil sie bisher zu tief verborgen waren, weil es jetzt einfach erst der richtige Zeitpunkt ist oder vielleicht auch, weil ich durch meine Arbeit und mein Wissen sensitiver im Umgang mit meinen eigenen Gefühlen, Reaktionen und meinem Verhalten geworden bin.

Es gibt in unserer Branche tatsächlich viele Menschen, die selbst sehr schwierige Erfahrungen gemacht haben. In gewissen spirituellen Lehren wird sogar davon berichtet, dass Menschen, die heilende Berufe ergreifen, oft kurz bevor sie diesen Weg einschlagen, selbst eine besonders schlimme Erfahrung machen. Und natürlich fühlen sich viele Menschen besser verstanden, wenn wir Erfahrungen teilen und ähnliche Erlebnisse gemacht haben.

Nur wer die eigenen unbewussten Antreiber und Einflüsse kennt, kann seine Arbeit reflektiert tun und lebt nicht weiter seine Strategien

Es gibt aber auch Stolperfallen dabei, auf der Suche nach einem «Nutzen», einem Sinn des eigenen Erlebten, mit Menschen arbeiten zu wollen. Man kann sich auch darin verlieren, auch in der Arbeit mit Menschen weiterhin die eigenen Strategien weiter zu leben, die eigenen traumatischen Erfahrungen zu wiederholen und die eigenen Überzeugungen und  unerkannten Antreiber gerade durch diese Arbeit zu stillen.

Ich sage zum Beispiel bewusst nicht, das ich Menschen «helfe». Ich habe meine Erfahrungen damit gemacht, wenn ich aus einem Helfersyndrom heraus helfen möchte und damit nicht nur meine Grenzen ständig sprenge, sondern auch eine Verantwortung für meine Klient*innen übernehme, die sie in eine hilfsbedürftige Rolle bringt.

Ich unterstütze Menschen und begleite sie. Aber die Verantwortung bleibt immer bei ihnen selbst. Und ich lebe mit meiner Arbeit etwas aus, was mich begeistert und motiviert. Aber ich suche mir damit keinen Ort mehr, wo ich helfen kann und mich gebraucht fühle. Im Gegenteil. Ich feiere immer, wenn eine Person sagt: «So, von hier an gehe ich allein weiter.»

Ich kenne die Stolperfallen der «eigenen Themen» nur zu gut. Zu Beginn meiner Arbeit war mein selbst ernanntes Ziel, Menschen zeigen zu wollen, dass sie nicht falsch sind – weil ich mich selbst so lange falsch gefühlt habe. Und so schön ich es nach wie vor finde, wenn Menschen sich in der Arbeit ein Gefühl schaffen können, dass sie nicht falsch sind:

Dieses Ziel ist eine direkte Weiterführung meiner eigenen Geschichte. Und damit gebe ich meinen Klient*innen unbewusst ein Ziel vor, dass sie selbst vielleicht gar nicht haben. Denn es ist vielleicht nicht ihr persönliches Ziel, sich nicht falsch zu fühlen, sondern etwas ganz anderes zu erarbeiten.

So viel Verbundenheit es auch schafft, wenn man ähnliche Erlebnisse erlebt hat; man projiziert als Coach*in vielleicht auch Teile von sich auf andere Menschen und kämpft Kämpfe, die nicht die eigenen sind.

Denn mein Lebensweg ist nicht der Lebensweg derer, die zu mir kommen.

Meine Arbeit ist keine Weiterführung meiner Geschichte, sondern ein Ausleben eines Bedürfnisses, das auch durch meine Geschichte gewachsen ist

Ich habe mich mittlerweile entschieden, meine Arbeit nicht als Berufung zu sehen, sondern als Tätigkeit, die mir das Ausüben meiner Stärken erlaubt und die mich so sehr interessiert, dass es keinen einzigen Tag gibt, an dem ich nicht darüber nachdenke.

Ich habe mir zum Ziel gemacht, dass ich mit meiner Coaching-Arbeit, aber auch mit der Forschung, die ich noch plane zu verfolgen, dazu beitragen möchte, dass zwei Dinge wieder stärker zusammen kommen, die wir oft als getrennt erleben, die aber beide zu einem «Ganzen Ich» gehören:

Das Bewusstsein (unsere Gedanken) und unsere Gefühle (und damit auch, was sie unbewusst beeinflusst).

Traumatische, überfordernde Erfahrungen oder Erfahrungen, die wir präverbal machen – also bevor wir bewusst denken – können dazu führen, dass wir diese zwei Dinge sogar als sehr weit voneinander entfernt erleben.

Ich bin habe meine Arbeit dem Zusammenbringen von Gedanken und Gefühlen gewidmet, von Gefühl und Ratio, von Wissenschaft und Spiritualität. Letztere würde hier vermutlich sagen, dass wir uns von einer dualen Welt verabschieden sollten. Und tatsächlich gibt es selten Schwarz und Weiss, auch wenn unser Schubladen-liebendes Gehirn es mag, klare Linien zu ziehen.

Meine Arbeit möchte Menschen dabei unterstützen, sich selbst besser zu verstehen. Und indem wir unsere Gedanken und unsere Gefühle besser verstehen, kommen diese beiden Teile unseres «Ichs» wieder näher zusammen und wir erleben in unserem Sein und Tun mehr Ganzheit und Übereinstimmung mit uns selbst. Und schliesslich auch mit unserer Umwelt, weil wir besser verstehen, wie wir mit anderen Menschen interagieren und welche Dynamiken unsere Gefühle und Reaktionen beeinflussen.

Ich kann im Grunde genommen nicht sagen, welche eine traumatische, überfordernde Erfahrung mich antreibt, meine Arbeit zu tun. Aber ich kann sagen, dass ich mich lange falsch gefühlt habe, weil ich mich, meine Gefühle und auch das Verhalten anderer Menschen lange nicht verstanden habe. Und versucht habe, mit meinem Verstand meine Gefühle zu überschreiben, statt sie als reflexartige Reaktion zu verstehen, die ich in mein Erleben und Bewusstsein integrieren kann.

Mich treibt nicht das eine Trauma an, sondern das auch daraus gewachsene Gefühl, mich und meine Gefühle besser verstehen zu wollen

Meine Arbeit ist also sicher daraus entstanden, dass ich selbst einige Dinge besser verstehen wollte.

Bin ich also eine kleine Forscherin geworden, weil ich selbst viele Fragen hatte? Unbedingt! Und das ist auch gut so, denn ich glaube auch hier fest daran, dass wir das, was wir täglich bewusst tun und das, wonach wir uns unbewusst sehnen, in Übereistimmung bringen sollten.

Und ich glaube, am Ende gilt das doch für jede Berufswahl. Irgendwo, irgendwie fliessen immer bewusste Entscheidungen und unbewusste Bedürfnisse, Erfahrungen und Sehnsüchte ein. Genau darum geht es doch, das wir das Menschsein wieder als etwas Ganzheitliches betrachten. In jeden Schritt, den wir tun, fliessen immer viele verschiedene Facetten ein. Und keine davon ist richtiger oder falscher. Aber manche Dinge, die uns beeinflussen, dürfen uns noch bewusster werden, damit sie uns nicht unbewusst immer wieder in eine Richtung drängen, die uns schon lange verleidet ist.

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