Das richtige Mindset war in den letzten Jahren die viel gepriesene Formel für Wohlbefinden und Erfolg. Und wenn wir uns nicht gut fühlen, aber keine organische Ursache gefunden werden kann, dann ist das Problem eben «im Kopf». Wenn wir also nur endlich die richtigen Gedanken denken und uns selbst davon überzeugen können, dann wären wir alle glücklich und zufrieden, oder? Schliesslich hat René Descartes schon gesagt, «Ich denke, also bin ich».
Wie sicher wir uns fühlen ist wichtiger, als wie sicher wir denken, zu sein.
Ich weiss nicht wie es dir, lieb*e Leser*in geht, aber ich habe lange Zeit versucht, mit dem richtigen Mindset gegen negative Gefühle anzukämpfen. Und ich habe mich dafür geschämt, dass es nicht funktioniert hat und «bei mir im Kopf ein Problem war».
Irgendwann wurde mir klar, dass das, was wir fühlen, einen viel grösseren Einfluss auf das hat, was wir erleben und denken, als wir es uns bewusst sind. Und, dass das, was wir fühlen, wahnsinnig schlecht mit (positiven) Gedanken reguliert werden kann.
Die Polyvagal-Theorie ist für mich revolutionär, weil sie in aller Deutlichkeit unterstreicht, dass es unser komplettes Erleben und Denken beeinflusst, wie sicher wir uns fühlen. Damit wird auch klar, dass unsere rationale Feststellung, dass wir sicher sind weniger Einfluss auf uns hat, als die gefühlte Sicherheit im Körper!
Darum ist die Polyvagal-Theorie für mich revolutionär
Die Polyvagal-Theorie von Dr. Stephen W. Porges wurde 1994 erstmals vorgestellt und in relevanten Teilen unter anderem 2010 stark weiter entwickelt. Sie ist also ein noch junges Framework, das von seinem Begründer als als «Theorie über unser In-der-Welt-Sein als Menschen und über unser Bedürfnis nach Sicherheit und Verbundenheit mittels vertrauensvoller Beziehungen» beschrieben wird.
Für mich sind besonders drei Aspekte revolutionär:
- Das Gehirn steht über allem und erteilt dem Körper Befehle? In der polyvagal-informierten Arbeit wissen wir, dass es das Gehirn und der Körper bidirektional über das autonome Nervensystem kommunizieren. Es gibt eine Top-Down- (vom Gehirn in den Körper) und eine Bottom-up- (Körper-Gehirn) Kommunikation und der Vagusnerv nimmt bei dieser Kommunikation eine sehr wichtige Rolle ein. Es wird geschätzt, dass etwa 80 bis 90 Prozent der Fasern des Vagusnervs afferente Fasern sind. Sprich, ein Grossteil des Vagusnervs dient der Übertragung sensorischer Informationen aus verschiedenen Organen an das zentrale Nervensystem, insbesondere an das Gehirn. Das, was unser Körper, unsere Organe und unser autonomes Nervensystem «fühlen», wirkt sich also deutlich darauf aus, was wir denken und wie wir die Welt erleben. Es wäre also nicht mehr «Ich denke, also bin ich» sondern viel mehr «Ich fühle, also werde ich».
- Die Polyvagal-Theorie zeigt in aller Deutlichkeit auf, wie wichtig soziale Verbundenheit für uns ist. Sie erklärt uns im Detail, wie wir auf körperlicher Ebene für Verbundenheit gebaut sind. Dementsprechend bedeutet das auch, dass Momente oder Phasen, in denen wir keine sichere Bindung erleben, uns auf körperlicher Ebene langfristig verändern. Vereinfach ausgedrückt, bedeutet Alleinsein für uns ein Gefühl von Lebensgefahr.
- Die Polyvagal-Theorie betrachtet unser Erleben und unser Dasein aus einer systemischen Sichtweise: Alle unsere Organe, unser autonomes und zentrales Nervensystem, unsere Gefühle und unser Erleben sowie unsere Verbindungen und zwischenmenschlichen Beziehungen interagieren miteinander. Wie wir uns fühlen und was wir erleben hat selten eine einzige Ursache, sondern ist ein komplexer Prozess, von dem ein grosser Teil unbewusst läuft. Aber vor allem verstehen wir mit der Polyvagal-Theorie, dass selbst unser merkwürdigstes Verhalten oder die mühsamsten Muster und Gedanken zur Aufgabe beitragen, unser Überleben zu sichern. Nur tun wir oft Dinge, von denen unser autonomes Nervensystem glaubt, dass sie uns absichern (aber sie blockieren uns).
Darum ist polyvagal-informiertes Coaching ein völlig neuer Ansatz
Coaching ist ein Prozess, der Menschen dabei begleiten möchte, von A nach B zu kommen. Um Ziele zu erreichen, ist es wichtig, Blockaden zu lösen, diffuse Ängste zu bändigen, Unsicherheit und Konflikte handeln zu können.
Insbesondere für Menschen, die jahrelang erfolglos versucht haben, mit ihren Gedanken ihr Wohlbefinden zu steuern, ist ein polyagal-informierter Ansatz ein ganz neuer Weg. Denn er zeigt uns, auf, dass die gefühlte Sicherheit teilweise deutlich relevanter ist, als das, was wir denken. Wenn wir also verstehen, warum wir uns nicht sicher fühlen, können wir daran arbeiten und damit unsere Gedanken und unser Leben verändern.
Ich fühle (mich sicher), also werde ich (sicher sein).
Meine Coaching-Arbeit ist top-down und bottom-up
In jeder Sitzung arbeiten wir am mentalen Verständnis unseres Themas und am körperlichen Sicherheitsgefühl. Für mich führt nur eine Kombination aus Gesprächen und Körperübungen langfristig zu einer erfolgreichen Veränderung.
Bücher, die für diesen Blog-Artikel genutzt wurden:
Heilen mit der Polyvagal-Theorie, Dr. Stephen W. Porges
Die Inhalte dieses Textes beruhen auf meiner Arbeit und meine Erfahrungen als polyvagal-informierte Coachin. In diesen Text und seine Thesen fliessen meine entsprechenden Ausbildungen in Traumaintegration und der Polyvagaltheorie. Ich bestehe nicht auf abschliessende Vollständigkeit und habe einige (anatomische) Details stark vereinfacht. Ich ermutige Leser*innen, sich eine eigene Meinung zu machen und weitere relevante Quellen beizuziehen.