Wir brauchen keine Reparatur, keinen Fix, kein Biohacking - sondern (wieder) mehr Kapazität

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«Und, wie werde ich das unangenehme Gefühl jetzt los?» – in meiner Arbeit als Coachin schauen mich oft grosse, erwartungsvolle Augen an und warten darauf, dass ich ein Pflaster, einen Quick Fix, eine Reparaturmethode vorschlage.

Schliesslich lesen wir doch überall, dass wir geheilt, repariert, unsere Gefühle gehackt oder reguliert werden müssen. 

Ich glaube, wenn ich mich mit etwas in meiner Branche schwer tue, dann damit, dass sie in den Narrativ der industrialisierten Produktivitäts-Gesellschaft hinein spielt und uns erzählt, wir sollten schnell von «kaputt» zu «super happy» geheilt werden.

Oder wie es nun in der trendigen Nervensystem-Sprache heisst: Wir sollen uns alle möglichst mal regulieren und nicht immer so gestresst, traurig oder impulsiv sein.

Regulierende Körperübungen sind einfach, das Bearbeiten alter Reflexe und Verarbeiten der eigenen Geschichte nicht

Ich sage es dir, basierend auf meinem aktuellen Wissenstand, ganz ehrlich: Es gibt regulierende Übungen, die uns schnell Erleichterung verschaffen. Aber wenn wir immer wieder in ähnliche Reaktionsmuster und Nervensystem-Pfade hinein geraten, gibt es keinen Quick Fix, damit wir schnell geheilt sind.

Sowieso tue ich mich mit dieser Blase der «Heilung» schwer. Soll das denn heissen, dass ich kaputt bin und repariert werden muss? Leider führt das in der Realität meistens dazu, dass Menschen Heilung als etwas verstehen, was sie bekommen, was ihnen ein*e Heiler*in verschafft und woran sie eigentlich gar nicht beteiligt sind.

Gefühle haben einen Sinn, können aber von alten Wunden stammen, die wir (noch) nicht verstehen

Gefühle sind, vereinfacht ausgedrückt, dafür da, uns Signale zu geben. Diese Situation tut dir gut und diese Situation löst in dir Schmerz aus. Wir sind biologisch dafür gebaut, Schmerz aus dem Weg zu gehen oder etwas dagegen tun zu wollen. Denn Schmerz ist ein Zeichen einer potentiellen körperlichen Versehrtheit oder Wunde.

Studien zeigen, dass Einsamkeit uns auf körperlicher Ebene schmerzt. In der polyvagal-informierten Arbeit wissen wir, dass unser autonomes Nervensystem stets nach zwei Dingen strebt: Körperlicher Unversehrtheit und Verbindung. Beide Dinge sind wichtig dafür, dass wir sicher sind und überleben.

Empfindet unsere Neurozeption gefühlte Unsicherheit, reagiert sie reflexartig mit Verteidigungsstrategien. 

Wenn wir nun also zum Beispiel Erfahrungen der Einsamkeit als Kind gemacht haben, sind diese Wunden tief in unserem Körpergedächtnis und wir empfinden in aktuellen Situationen, die diese Wunden aktivieren, riesigen Schmerz – der aber oft gar nichts mit der aktuellen Situation zu tun hat. Reflexartig versuchen wir, mit der Situation umzugehen. Das kann zum Beispiel bedeuten, dass wir flüchten und die unangenehmen Gefühle möglichst schnell loswerden möchten. Aber auch, dass wir dieser Situation von nun an aus dem Weg gehen.

Ich erlebe in meiner Arbeit, dass insbesondere kindliche Vernachlässigung, Entwicklungstraumata und unsichere Bindungsstile tiefe Wunden hinterlassen, die lebenslang schmerzen. Denn sie gefährden alle die Verbindung, die unser Nervensystem sucht.

Und oft sitzen Menschen vor mir, die sich wünschen, diesen Schmerz oder den Schmerz alter Erlebnisse endlich loszuwerden. Und sie sind bereits seit Jahren davor weg gerannt. Auch, weil es oft immer schneller immer mehr weh tut.

Und es ist verständlich, dass sich solche Menschen «Heilung» wünschen.

Aber ich verstehe mehr denn je, dass uns als Individuum und als Gesellschaft die Fähigkeit und Zeit abhanden gekommen ist, Dinge zu verarbeiten. Es muss immer alles schnell repariert werden, damit wir leistungsfähige Teile der Produktivitätskette sind. 

In meiner Arbeit geht es darum, dass Gefühle handhabbar und verstehbar werden. Denn dann können wir sie verarbeiten. Und was wir verarbeitet haben, schmerz mit der Zeit weniger, weil wir zwischen altem und neuem Schmerz besser unterscheiden und die gemachten Erfahrungen integrieren können.

Nervensystem-Regulation bedeutet, uns aus einer autonomen Reaktion zu begleiten und unser Fenster für gefühlte Sicherheit zu erweitern

Wenn wir von Nervensystem-Regulation sprechen geht es nicht darum, schlechte Gefühle weg zu regulieren. Sondern uns aus einer Defensiv- oder Freeze-Reaktion zu lösen, in die uns gefühlte Unsicherheit automatisiert hinein manövriert hat. Und gefühlte Unsicherheit kann auch eine Erinnerung an vergangenen Schmerz sein, die wir in einem regulierten, als sicher empfundenen Zustand besser verstehen und verarbeiten können.

Uns fehlt zwischen all den Impulsen, Signalen und Erlebnissen der schnelllebigen Zeit die Kapazität, Dinge zu verarbeiten. Dazu kommt, dass wir unangenehme Dinge auch gern schnell vergessen.

Aber unser Körper vergisst sie nicht so schnell. Und wenn wir uns niemals mit dem auseinander setzten, was in uns vorgeht und lernen, auch unangenehme Gefühle zu «halten», ohne  davor zu flüchten, sie zu bekämpfen oder taub zu werden, sammelt sich ein Stau in uns an. Und dieser Stau, diese offenen, aber ignorierten Wunden, können ganz plötzlich zum Problem werden, weil wir die Gefühle, die uns überfallen, nicht mehr verstehen und unser bewusstes Planen und Denken davon regelrecht ausgeschaltet werden.

Coaching bedeutet, dass wir lernen, auch unangenehme Gefühle zu «halten»

Ich verstehe Coaching als Prozess, der dir dabei hilft, (wieder) gefühlte Sicherheit zu empfinden und in dieser Sicherheit langsam in deine Gefühle einzutauchen. Dabei erweitern wir sukzessive die Kapazität, sie zu halten ohne zu flüchten, zu kämpfen oder taub zu werden. Und wir schaffen mehr Verständnis für dich, deine Geschichte und dein Menschsein.

Und auch, wenn es sich besser bewerben lassen würde, wenn ich dir eine schnelle, einfache Lösung verspreche. Ich bin lieber ehrlich und sage dir, dass wir Zeit brauchen. Aber ich gestalte den Prozess auch mit Spass, mit kreativen Übungen und sorge dafür, dass es auch Freude bereitet.

Die Inhalte dieses Textes beruhen auf meiner Arbeit und meine Erfahrungen als polyvagal-informierte Coachin. In diesen Text und seine Thesen fliessen meine entsprechenden Ausbildungen in Traumaintegration und der Polyvagaltheorie. Ich bestehe nicht auf abschliessende Vollständigkeit und habe einige (anatomische) Details stark vereinfacht. Ich ermutige Leser*innen, sich eine eigene Meinung zu machen und weitere relevante Quellen beizuziehen. Das Bild zum Beitrag wurde mit AI generiert und ist keine naturgetreue Abbildung. 

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